Als Erster unter Gleichen… Über die subversive Kraft des Meßbaren im Spitzensport
Ein philosophisches Essay
In welcher Branche werden noch größere Worte gemacht als in der Essayistik? Im Spitzensport. Wo ist die rhetorische Sophisterei platt und die reine Physik haarspalterisch? Im Spitzensport. Wo klöppelt man aus der Nasenlänge echtes Geld anstatt Wortspiele? Im Spitzensport. Wo wird die rundungsfreudige Rechnergeneration des "Pentium" revolutionärer wirken als im Finanzsektor? Im Spitzensport.
Aber Kritik an den Zuständen dieser Branche ist dennoch unberechtigt… In diesem Essay sollen keineswegs großspurig die Widersprüche der Leichtathleten und Abfahrtsläufer aufgedeckt werden, sondern in der schmalen Loipe der Vernunft wollen wir wieder mal dem Problem von Zeit und Bewußtsein hinterherhecheln, so daß es auch die Leute mitbekommen, die außer der Sportschau sonst nichts verstehn. Vielleicht verlieren wir dabei durch mancherlei langatmige Überlegung einige Zehntelsekunden oder machen dabei ganz schlapp, aber man darf nicht von vornherein negativ denken. Dann schafft man es nie. Es gibt keine Alternative zum Siegen.
Kategorisch abzulehnen sind übrigens Dopingmittel jeder Art. Es gibt einen Ehrenkodex der Essayschreiber, daß man gedopt nur noch Kurzgeschichten schreiben soll. Darum werden wir an uns halten. Das Essayschreiben muß sauber bleiben. Aber das ist nicht das Thema.
…In Hundertstelsekunden entscheidet sich alles. Die Erkenntnis aus der Psychologie, daß das Bewußtsein sich im Dreisekundentakt neu justiert, wird im Sport unwahr. Im Training wird das Bewußtsein hochgetaktet, aufgebohrt, und optimiert. Das Bewußtsein soll sich alle Zehntelsekunde, nein, alle Hundertstelsekunde überprüfen. Geistesgegenwart ist das Ziel des Sportlers. Er muß immer voll da sein, genau wie der Essayist, dessen Ziel ebenfalls in der höchst raschen Ansprechbarkeit für die Erfordernisse des Formulierens und des Gedankens liegt.
Wo waren wir stehengeblieben? Moment, ich lese den letzten Absatz noch einmal durch. Beim Problem der Echtzeit waren wir stehengeblieben. Jetzt aber schnell weiter. Die rasche Abfolge von Ereignis und Reaktion erfordert vom Spitzensportler größte Konzentration. Es gibt kein Aufarbeiten und kritisches Hinterfragen während des Wettkampfes. Es muß alles während der Aktion bewertet werden, das Wichtige vom Unwichtigen geschieden, - der abstrakte Kerngedanke, welcher heißt: Sieg! darf aber dennoch niemals vergessen werden. Das Bewußtsein setzt also große Energien zu dem Zweck ein, sich des Unwichtigen unbewußt zu werden. Erreicht werden soll der Trancezustand des starken Willens.
Hier die Frage aufzuwerfen, ob es nicht lächerlich sei, wenn man die Skiabfahrtsläufer nach Hunderstelsekunden bewerte, "wo doch alle im Grunde sowieso gleich schnell sind", ist die reine Naivität. Ja freilich ist einem die Zeit einerlei, wenn man träge auf dem Sofa vor dem Fernsehen sitzt und sich einen Weltmeisterschaftswettkampf dösig mit Chips und Bier reinzieht! Über die Taktfrequenz eines <u>solchen</u> Bewußtseins Aussagen zu machen, verbietet uns allerdings ebenfalls der Essayistenkodex.
Zweifellos ist also einer, der eine Hunderstelsekunde schneller ankommt, der Sieger, - während die anderen, die Nanosekunden später hinterhergetrabt kommen, eben nur fast Sieger geworden wären. Der Frage, ob der gewaltige Prestigeunterschied zwischen erstem und zweitem Platz durch die knappe Zeitdifferenz gerechtfertigt ist, kann hier kein Platz eingeräumt werden. Die Frage ist unsportlich. Die Antwort würde umständliche Verrenkungen erfordern.
Ein Ausweg läge natürlich darin, den Meßraum insgesamt zu verlängern. Wenn der Begriff "gleichzeitig" bei den Hundert-Meter-Läufern auch durch physikalische Sophistik nicht mehr widerlegt werden kann, muß man eben als geringste Distanz einen Kilometer nehmen. Dann hat man wieder meßbare Differenzen. Und im Marathon-Lauf kommt man unseres Wissens bisher auch noch mit einer Zehntelsekundenskalierung aus. Das müßte ich jetzt aber erst noch konkret recherchieren. Außerdem geht es gar nicht darum.
Konzentration, Geistesgegenwart, hochbewußte Trance, Leistungswille: selbstverständlich ist das nicht alles. Dies ist nur der nackte mentale Unterbau des Sieges. Darüber kommt der Stoff, das Eigentliche, das Sportgerät, das Vehikel, der Inhalt, das Industrieprodukt. Jedoch, in der materiellen Zurüstung geht es ähnlich eng zu wie in der psychologischen. Die Möglichkeit, mittels Experimenten die besseren "Charaktereigenschaften" eines Sportgerätes herauszufinden, seien es der Turnschuhe, seien es der Skier, erhält sich nur durch die Kanalisation immer größerer Datenströme. Aber wozu stehen an den Universitäten die Superrechner herum? Die schönste Rechnungseinheit des letzten Dezenniums war sicherlich der "Luftwiderstand". Hier gab es viel zu optimieren, was dann vor allem in concreto zu neuen Leibchen und Hosen führte. Doch Leibchen und Hosen von Leistungssportlern können natürlich nicht das Thema in diesem philosophischen Essay sein.
Gerade noch herbeilassen könnte man sich allerdings für die Überlegung, inwieweit die Sponsorenaufkleber mit den Verbandslogos ästhetisch wetteifern. Bei den Skianzügen hat man ja, eben weil im Schnitt alle gleich sind, für jedes Land ein nationales Design entworfen, welches desto bunter und schriller wirkt, je konservativer die jeweilige Regierung ist. Aber das ist jetzt etwas schwarzweiß gemalt. Es hat aber auch schon Skislaloms gegeben, wo die Wettbewerbsteilnehmer aggressiv die Sponsorenfähnchen, die zwischen den Stangen verknotet waren, abgerissen haben. Diese beeindruckende Art zu sagen "Es reicht! Keine weiteren Sponsorennamen auf der Piste!" ist ein großartiger Akt der Solidarität unter den Skifahrern. Sicherlich hat das einige Zehntelsekunden gekostet, die nachher einfach nicht da waren. Und sicher hat manch einer seine Courage auf der Piste nachher bereut, als er sah, daß der Rechner am Ziel moralische Gesten nicht berücksichtigt.
Das Stoffliche nähert sich also genauso der reinen Effizienz an wie das Mentale. Die Unterschiede verschwinden hin zum Optimum, und einzig die Notwendigkeit, einen Sieger für die Sportnachrichten (Persönlichkeit) und mehrere Produkte für den Konsumenten zu haben (Pluralismus), verhindert, daß das Optimum verwirklicht und dann vergessen wird. Aber dies wird nicht geschehen, und so bleibt das Sportthema immer wieder einer der wenigen Stoffe zu Auftragsarbeiten für unsereins. Dies nur nebenbei.
Wir kommen zum Ende dieses Essays. Dem Essayisten geht langsam die Puste aus. Die Ahnung, daß hier irgendwas nicht stimmt, darf nicht beachtet werden. Das Ziel ist jedenfalls erreicht. Wenn auch sicherlich nur knapp.
(vor 1995 geschrieben)