Eines steht fest, sagte sich Lucien, wenn ich ein vernünftiger Mensch bleiben will, werde ich hier auch nicht einen einzigen armseligen kleinen Salon finden, in dem ich meine Abende verbringen kann.
Stendhal, Lucien Leuwen
Der ultimative Rave
Der schwarze Swinger aus schwerem Tweedstoff, den Emilia übergeworfen hatte, öffnete sich wie zufällig und gab den Blick frei auf ihren Strickrock, der sich eng um ihre Beine schmiegte, als sie am Eingang des Music-Land vor dem Türsteher zum Stehen gebracht wurde und wo sie gelangweilt eine schwarze Strähne aus der Stirn wischte.
Eigentlich
war ich es, bei dem der Wachhüne ins Zögern geriet, ob sowas der Ästhetik des Etablissements zugemutet werden könne, aber er gab sich einen Ruck, nachdem meine Zugehörigkeit zu jemanden, der die Ästhetik um jenes Niveau wieder anhob, welches bei mir verlustig zu gehen drohte, klargestellt war.
Er winkte uns durch, - nichtwissend, daß er
in seiner Bewährungsprobe bei mir philosophisch nicht durchgekommen war -, und wir, Emilia und ich, verloren uns, als die zehn Mark an der Kasse für jeden von uns abgedrückt waren, in einem langen, fast unmerklich aufsteigenden Gang, bis wir, einem wummernden monotonen Rhythmus folgend, an vielen dahingelehnten Tanzmüden vorbei, zur Garderobe gelangten. Dort entledigten wir uns der Mäntel und gaben sie einem melancholisch dreinschauenden Fräulein, das nicht den Anschein erweckte, noch lange auf die guten Stücke aufpassen zu wollen, obgleich es doch erst ein Uhr war. Emilia gab mir ein Zeichen, daß sie kurz verschwinden müsse, also trat ich allein in das Gewölbe ein, aus dem mir heiße Luft entgegenschlug und ein Lärm, den ich aber alsbald als Musik identifizierte.
Ich trat ein
und stieg hinab in ein ziemlich weitverzweigtes Labyrinth, dessen Mittelpunkt mir als ein pulsierendes Lichtgewirr erschien, worin sich eine zappelnde Menschheit gefangen fand: die Tanzfläche; alles andere ging in einem dämmernden Zwielicht unter. Im Umfeld stand eine Masse von Individualisten. Ja, daß sie es waren, war sofort ersichtlich, denn alle standen sprachlos in der Finsternis, als hätten sie sich nichts zu sagen. Sprechen war auch faktisch unmöglich im Bannkreis der hämmernden Musik.
Ich quetschte
mich durch die dichtgedrängten Leiber hin in Richtung der langen Theke; dabei ließ ich meine Blicke forschend über die versteinerten Gesichter streifen, ob nicht ein bekanntes darunter wäre; ein bisschen Grüßen wäre jetzt cool gewesen; und ich hoffte dabei inständig, über keine Fußbodenerhebung zu stolpern, denn das ist der moralische Ruin in einer Diskothek.
Hinter der Theke mixte der Barkeeper Cocktails, die "Manhattan" oder "Swimming Pool" oder "Manila Ice" hießen. Ich sah ihm etliche Minuten dabei zu, bis ich meinen Wunsch nach einem "Cuba libre" vorbringen konnte. Der war, als man ihn mir nach weiteren etlichen Minuten hinschob, giftgrün und hatte einen Trinkhalm. Ich bezahlte und schob mich wieder an den Individualisten vorbei ins Dunkel hinein.
Als ich an einer Säule
vorbeikam, von der aus sowohl der Eingang als auch die Tanzfläche zu sehen waren, lehnte ich mich dagegen und blies durch den Trinkhalm in den giftgrün leuchtenden Cuba Libre. Die Bewegungslosigkeit derer, die den zum Tanzen ausgewiesenen Bereich umstanden, brach sich kontrastreich an dem heftigen Gezappel der anderen, die sich darin aufhielten. Ich wußte nicht, wieviel Zeit seit meinem Hereinkommen verstrichen war; es konnten zehn Minuten gewesen sein oder eine dreiviertel Stunde; jedenfalls war seither Emilia nicht mehr aufgetaucht.
Da ich aber den Eingang überblickte, würde sie mir
beim Eintreten nicht entgehen. Also wendete ich meine Aufmerksamkeit mitunter der wild pogenden Menge im Lichtkreis zu, deren Dynamik durch einen absoluten Mega-Hit, den der Diskjockey im guten Gespür für die Atmosphäre aufgelegt hatte, einen zusätzlichen und neuen Schwung bekam. Es war eine Maxiversion des neuen Produktes, das eine Gruppe namens The KLF auf den Musikmarkt geworfen hatte. Ein einleitender akustischer Gimmick, der einen kauzigen Ton von seltsamen Humor ergab, brach sich und endete als stampfender Rhythmus, der nun als starres und drängelndes Zeitmaß die Herrschaft an sich riß. Dieser Rhythmus war ganz und gar präzis und maschinengesteuert und macht auch keinen Hehl um seine elektronisch-anonyme Herkunft.
Voller Stolz und
Selbstbewußtsein präsentierte ein funktionierender technischer Automatismus eine unmenschliche Ästhetik, der sich die wild tanzende Menge ohne jedes Schaudern anschloß und mit Hingabe als Herrn ihres Vergnügens achtete. Bald aber, nach einigen retardierenden Intermezzi und einem schüchtern aufkeimenden Melodieansatz, der seinerseits die Kraft des stählernen Herzschlages anerkannte und seine Wirkung ganz der größeren unterordnete, nach solchem retardierenden Geziere also, der die Gier nach einem Refrain, der alles befreien soll, ins Grenzenlose gedeihen läßt, ließ sich im elektronisch-akustischen Maschinenpark eine Frauenstimme von umwerfender Emotionalität vernehmen, welche einen Effekt erzielte, als wäre nun ein Bann gebrochen. In der Tat zappelten die Tänzer jetzt quasi völlig enthemmt im klug kalkulierten Dezibelregen.
Die Stimme der Sängerin aber sollte
nicht lange ihre süße Autonomie behalten: in wichtigen sinntragenden musikalischen Passagen, etwa in einer Verzögerung vor dem deswegen umso mehr ersehnten Refrain, wurde ihre Stimme verfremdet und als schriller langgezogener Ton in den Dienst des Rhythmus gestellt, der sich solcherart gegen die aufregende Monotonie profilieren konnte und umso stärker in Erscheinung trat. Doch immer wieder retteten sich die vocals zurück in die humane Mittellage, und dort entfalteten sie als Kontrast zum Übermächtigen eine Art von Ausdruck der seelischen Qual, die sich unmittelbar mitteilte und jeden Hörenden tief beeindrucken mußte, so wie sie mich beeindruckte.
Wie nun aber Betroffenheit nichts ist, was in
einer Discothek lange andauern würde, so blieb auch in diesem Falle nichts übrig davon, denn als ich näher auf den Text dieses Dance-Floor-Mixes hörte, in dessen Musik so aufwühlend der Kampf der technischen Welt gegen die Reste der Humanität tobte, vernahm ich die explizite Kapitulation des menschlichen Selbstbewußtseins vor der Übermacht der Zeit und des Rhythmus. Die sinnliche Stimme der Sängerin nämlich forderte im Text eine Auferstehung des Beats auf Grundlage einer archaischen Verfassung, wie sie in "Muh-Muh-Land", wohl einem satirischen Vorgriff auf den endzeitlichen Staat, noch gepflogen wurde. Dahin sollen wir zurückgehen, wo die Alten und die Gerechten noch das Sagen beziehungsweise Singen hatten. Auf nach Muh-Muh-Land.
Durch gewisse
Kniffe, die im Tonlagenwechsel und namentlich in der Wiederholung wichtiger Passagen lagen, bekam man trotzdem den unwiderleglichen Eindruck von Bedeutsamkeit, einer temporalen Allesmachbarkeit, einer verborgenen Botschaft, die dem Lied unterlegt war. Namentlich in der Wiederholung wichtiger Passagen lag ein apodiktischer Hinweis auf Bedeutsamkeit, einer verborgenen Botschaft, einer temporalen Allesmachbarkeit, die dem Lied immanent war. Ich blies etwas Luft in meinen Cuba Libre, der giftgrün phosphoreszierte.
Die TänzerInnen hatten sich indes
schon seit einiger Zeit in eine gemäßigte Trance hineingearbeitet, die eine umgreifendere Interpretation des Liedtextes von ihrer Seite aus freilich nicht mehr erlaubte. Die wenigsten der Akteure ließen sich übrigens beim Tanzen gehen. Alle hatten sich soweit im Griff, daß sie nicht aufschreckten, wenn sie von den Mitpropagandisten angerempelt wurden, was nicht selten geschah. Dies beengte Tanzen erfüllte vermutlich zwei Grundbedürfnisse in idealer Weise: jeder war mit sich allein und konnte seine autistische Vergnügung des Abhottens pflegen, andererseits ließ die Nähe von vielen, die das gleiche machten, das rationale Gefühl für Lächerlichkeit, das jeden dieser Bankangestellten, Bundeswehrzeitsoldaten und Apothekenhelferinnen (MTAs) und sonstigen Berufsinhaber für sich befallen hätte, nicht allzu stark aufkeimen.
Während viele männlichen Tänzer entweder fad
und unaufdringlich oder gleich ganz und gar unecht und exzentrisch ihrem Tun nachgingen, kriegten manche Tänzerinnen stilistisch die Kurve und blieben trotz ihrer angestrengten Aktivitäten ansehnlich.
Es ist ein Fakt, daß in weltanschaulich gefährlichen
Situationen gewisse Frauen ihre erotische Ausstrahlung wiedergewinnen, und, sei es unbewußt und aus einem reinen Gespür für die Stimmung heraus, mit einer primitiven Lust ihrer Wohlgeordnetheit entfliehen, mitten in eine unbestimmte Ambivalenz der Undeutlichkeit hinein, oder wie man dazu sagen soll.
Ich sah eine Tänzerin, welche mit
dem Rücken zu mir tanzte, gleichwohl ihre schwarzen Haare in einer Weise wirbelte und ihren Körper dynamisch verlagerte, wie es in der Nüchternheit des Alltags wohl nicht ungesetzlicher geschehen dürfte. Der Liebreiz und die Freiheit ihrer tänzerischen Handlungen brachten mich nicht nur dazu, mein Standbein auszutauschen, sondern auch dazu, bewundernd in meinen Cuba Libre hineinzublasen, welcher daraufhin giftgrün phosphoreszierte.
Mein Blick ging nicht zum Eingang des Gewölbes,
sondern blieb bei der Tänzerin, die sich im Rahmen der freien dynamischen Entfaltung drehte und wendete und nun ihre Vorderseite in meine Richtung verlagerte. Ich erkannte Emilia. Freilich konnte sie mich nicht sehen, denn ich stand ja bei den dunklen Individualisten im Umfeld.
Das Lied war zu Ende, der Diskjockey ließ
aber den Bass-Rhythmus stehen und dieser glitt hinüber in ein neues Stück Musik. Dieses war ein besonders abgefeimtes: Man hatte ein altes Edith-Piaf-Stück aus den fünfziger Jahren bearbeitet und mit einem modernen harten Zeitkonzept unterlegt. Je ne regrette rien prügelte seine Aussage mit erhöhtem Zeit- und Pulsschlag in die Zuhörer hinein. Mit schockiertem Genuß lauschte ich dieser Verfremdung und sah Emilia, die das Lied natürlich ebenfalls wiedererkannte, ihre und Ediths Bejahung des Seins tänzerisch darstellen.
Das ergriff mich in seltsamer Weise. Die
aufgesetzte, schnell erreichte Form einer echten, langsam gewonnenen Affirmation des Lebens, die das Techno-Sample des Piaf-Bekenntnisses darstellte, schien in seiner Unvereinbarkeit dennoch bestens im Tanz der schönen Romanistik-Studentin aufgehoben. Wie schön das sein konnte: die Reife der Aussage des Liedes verbunden mit der sinnlichen und körperlichen Reife des tanzenden Körpers, der wiederum in seiner Forderung an das Leben ganz dem Rhythmus anheimgegeben war. Ist es nicht so, daß dieses alte Lied erst hier in dieser neuen Form zu seiner Bestimmung gelangt? Die Aufhebung aller Widersprüche, die man im Einzelfall auf der Tanzfläche schneller erreicht als in der politischen Entwicklung?
aus: Halt durch, Fidel! (Eine Suite, Teil zwei)