Philosophischer Nacht- und Sonntagsdienst

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»Der Öffentlichkeit Einzelheiten über mich selbst mitzuteilen, ist eine bourgeoise Versuchung, der ich stets widerstanden habe.«
Gustave Flaubert


(Ein zusätzlicher Abschnitt über Gustave Flaubert ist übrigens weiter unten zu finden)

"Nein, ich bin nicht verstockt", sagte er. "Es ist mir egal, und es geht mich auch nichts an, wie sich die Leute öffentlich präsentieren. Früher nannte man fremde Leute, die einen auf der Straße angesprochen und einen sofort mit ihren intimen Lebensgeheimnissen bekannt gemacht haben, verrückt. Ich finde aber, man sollte gerecht sein, und sie nur als zu früh in die Zeit Geworfene betrachten."

"Aber kuckmal", sagte A., der ehemalige Kollege seiner treuen und würdigen Ehefrau D. aus Bibliothekarszeiten. Sie hatten sich hier verabredet, weil die beiden Bibliothekare etwas im Netz nachschauen wollten, aber dann hatte es sich doch so ergeben, daß er sich dazugesellt fand und man die homepages diverser Bekannter aufgesucht hatte, worin das gesittete Surfen doch immer endet. "Kuckmal, das ist doch so schön gemacht. Ich finde diese schwarze Schrift auf gelbem Untergrund, hier etwa die da, sehr ästhetisch." A. zeigte mit dem Finger darauf und ging näher an den Monitor, um zu lesen. A. hatte sich aus den Bibliothekarskreisen hochgearbeitet und studierte jetzt Informationswissenschaften in Konstanz. "Ich möchte nochmals auf den www-Buchkatalog zurückkommen, äh -klicken, mhh -blättern", sagte D., die als einzige noch wußte, warum sie vor dem Computer standen und die homepages nicht mochte. Sie wollte Informationen. Sie verstummte.

Wohlgemerkt, die drei standen vor einem Terminal, hier in der Stadtbücherei, weil man auf diese Weise wohl von oben, von der Verwaltungsseite hoffte, die kostenlose Surferei wenigstens der älteren und gebrechlicheren Neuen-Medien-Benutzer abzukürzen. Die älteren Leute unter den Neue-Medien-Benutzern hatten, wieder einmal, wie so oft in allen Lebensbereichen, das Nachsehen beim technologischen Vorpreschen. Es ist doch immer das gleiche mit den Neuen Medien, elitär, arrogant, selbstbezogen und nabelschauend, diese Neuen Medien, und die sie verwalten, die Neuen Medien, sind es auch. Die Neuen Medien, die das ganze Leben umwälzen werden, ich sag nur Neue Medien.

"Bäck, bäck, bäck, da, Buch", sagte D..

"Die Wirklichkeit ist doch ganz anders", sagte A., er hatte den Blick immer noch dicht beim Focus. "Man sieht doch nur, was man sehen will. Den Leuten früher, die einen auf der Straße ansprachen, konnte man nicht ausweichen. Hier mußt Du die Seiten ja nicht anwählen, auf denen sich die Leute allzu geschmacklos selber in den Vordergrund stellen. Das sind diese Leute, die, nur weil sie wissen, wie man eine Suchmaschine foppt, immer am Anfang jeder Trefferliste erscheinen und daher wichtig sind. Und das ist doch wirklich so, daß sie dadurch auch wirklich wichtig sind, oder?" Er strich sich eine Strähne aus der Stirn. (Er verließ sich darauf, daß man die Ironie seiner Aussage ohne weiteres verstand.)

"Hast Du eigentlich auch eine homepage, A.?" fragte er. "Dann sollten wir ja jetzt noch kurz hinbrausen, und danach gehe ich aber heim" - "Naja, ich gestalte einige Seiten im Institut", sagte A., und tipperte flink auf der öffentlichen Tastatur. "Es ist nichts besonderes, nur statistische Graphiken und so." - "Keine eigebauten JAVA-Applets?" fragte er entsetzt. A. war jetzt ganz kleinlaut, desavouiert und bloßgestellt. "Nein", gab er zu.

"Hast ja auch recht. Guck mal, obwohl die ganzen Medien so toll und neu sind, finden sich schon jetzt reichlich Menschen, die den Stuß nicht mehr mitmachen. Hier ist ja auch schon wieder so einer, der dem Allerneuesten schon mit Überdruß begegnet", sagte er.

"Ja", sagte A., "aber die meisten haben dennoch einen irren Spaß daran."

"Das muß doch eine Entwicklung sein, die den Bibliothekaren Zukunftsangst macht", sagte er vorsichtig. "Bücher liest zwar ohnehin keiner mehr, aber bisher tat man wenigstens so, als würde man sie für unheimlich wichtig halten. Inzwischen geht man doch bloß noch in die Bibliothek, um Leute anzugaffen. Schau dich doch nur mal um, die ganzen Leute hier machen ja nichts anderes als uns anzustieren."

"Das ist, weil du so laut rumtönst", sagte D.. "Außerdem redest Du, wie so oft, auch inhaltlichen Unsinn, denn natürlich lesen die Leute weiterhin Bücher. Glaubst Du im Ernst, daß im Internet irgendwer einen langen Text auch nur anfängt zu lesen, geschweige ihn bis zuende mit seiner Geduld beehrt, und wenn doch, ihn nur eilig quergelesen haben wird. Richtiges Lesen mitsamt den Museminuten des genußvollen Verstehens findet nur offline statt. — Und außerdem sind wir drei ja auch deshalb hier, weil man hier kostenlos surfen kann. Auch das hat etwas mit öffentlicher Bereitstellung von aufklärerischer Lektüre zu tun." Sie war ein bisschen genervt, sah aber unglaublich gut dabei aus. "Übrigens hat da sogar einer seine Bücherliste veröffentlicht, ah, gar nicht mal so uninteressant." Sie vergaß ihren Ärger und scrollte durch. D. war ihrem Mann etwas böse. Eigentlich hatten sie bibliographieren wollen, und jetzt kam man wieder mal vom Hundersten ins Tausendste. Aber eigentlich hatte sie schon vorher gewußt, daß wieder mal keine ernsthaften Informationen übers Netz wandern würden. Und sie fand es okay, daß ihr Mann nun heimgehen würde, während sie mit A. noch ein wenig in Roger's Kiste sitzen würde. So hatte sie die Chance, an diesem Tag noch über etwas anderes reden zu können als über diese dummen unsoliden indiskreten und verrückten Neuen Medien.

Als sie dann draußen, vor der Stadtbücherei, am Portal des Wilhelmspalais, direkt am Charlottenplatz, dem wichtigsten Verkehrsknotenplatz der Stadt standen, und ein lauer Frühlingswind über sie hinwegwehte; während gleichzeitig die Abendsonne die drei ein wenig zum Blinzeln brachte, sagte er, daß er sich nun verabschieden würde.

(Solltest Du, geneigter und voyeuristischer Leser, nicht ebenfalls weitersurfen, spätestens an dieser Stelle? Merkst Du nicht, wie indiskret Du bist, wenn Du inmer noch weiterliest? Der Chat wartet! Wer weiß, wohin sich dieser losgelassene Homepage-Ersteller noch treiben lassen wird in seiner bodenlosen Geschwätzigkeit! Überhaupt, was bist Du denn für einer, der bis hierher gelesen hat. Das ist nicht vorhergesehen, es widerspricht allen Erfahrungen und allen Thesen dieser Seite, und das ist eigentlich eher ärgerlich. Los, verpiß Dich!)

Er wiederum sagte, er habe nun Hunger und wolle sich daheim sein eigenes Süppchen kochen. "Ich habe auch Hunger!" sagte D., "ich will eine Currywurst beim Brunnenwirt!". - "Die Currywürste sollen ja echt gut sein beim Brunnenwirt, die besten in der ganzen Stadt, wie man hört. Ich glaube, ich versuche auch eine." sagte A.. "Ach, eine Currywurst beim Brunnenwirt…" sagte er träumerisch. "Warum kommst Du nicht einfach mit?" fragte A.. "Na gut", sagte er.

Exkurs: Bauwerke

Sie schlenderten die ehemalige Auffahrt des Königs von Württemberg, der ja tatsächlich früher in der Stadtbücherei gewohnt hatte, hinunter, ergötzten sich am Neubau der Musikbücherei, der sich linker Hand sehr postmodern ins Bewußtsein drängte und fühlten ein schnelles Gefühl der Freiheit in der Zeitlosigkeit vorüberhuschen. Zumindest ihm ging es so. Aber er war ja auch der einzige, der gerade etwas Ungeplantes tat.

"Dafür, daß Stuttgart gewiß eine schrecklich biedere und pietistisch schrille Stadt ist, hat sie eine lustige Prachtstraße als Visitenkarte, Aushängeschild oder reale Homepage, oder wie man das im wirklichen Leben so nennt." - (Nachsichtiges Lächeln der anderen, sie wußten ja, dies ist nur ein Text, den keiner zuende lesen würde) - "Lauter verschiedene Baustile, die teils extrem häßlich sind, wie etwa die Landesbibliothek, die ganz ungehemmt im Stil der sechziger Jahre hingeklotzt wurde. Mannmannmann. Daneben die Stadtbücherei im niedlichen Wilhelmspalais, das kennen wir schon von innen. Und da hinten residiert die Edle, die Prachtvolle, die Staatsgalerie, die wahnsinnig schick und berühmt ist. Die Musikhochschule daneben, die den Stilemix hübsch erweitert, indem sie versucht, die Staatsgalerie ideenlos zu kopieren, paßt schon wieder zur Landesbibliothek, die daran anschließt. Langweile ich Euch sehr?"

"Das Witzige ist, daß ich es noch nie so betrachtet habe, obwohl ich schon tausendmal in Stuttgart war", sagte A..

"Ja, es macht schon einen Unterschied, etwas nur zu sehen oder darüber zu sprechen", sagte er mit Inbrunst.

"Reden ist ja ohnehin etwas, was Du die ganze Zeit ohne zu ermüden tun könntest", meinte D., die immer noch nachsichtig lächelte.

Er antwortete nicht. Sie standen nun direkt am Charlottenplatz am Fußgängerüberweg und sahen Unmengen an Vans, Cabrios, Jeeps und sonstigen Autos an sich vorbeibrausen. Es war so laut, daß das Gespräch sowieso unterbrochen worden wäre. —

Plötzlich war da ein Mann, der sie anbrüllte. Sie erschraken und sahen den Mann an, der aus Leibeskräften schrie. Warum tat er das? Woher wußte er das? Nach einigen Sekunden merkten sie, daß er sich nur verständlich machen wollte und daß er eigentlich innerhalb seiner Möglichkeiten ganz höflich nach dem Weg zum Bahnhof fragte. Er sei Tourist und habe sich verlaufen. Dann standen vier Leute gestikulierend und brüllend da, und nach einer Weile gingen drei davon über den Fußgängerüberweg, während einer den Weg zur Staatsgalerie einschlug. Ein paar hundert Augenpaare hatten das Vorkommnis hinter Autoscheiben hervorlugend beobachtet.

Dies alles geschah auf dem Charlottenplatz, auf dem und unter dem lauter kleine Informationspakete ihren Weg in irgendeiner Weise suchten. Es war heavy traffic um diese Zeit. "Früher war hier der sogenannte Häfelesmarkt, in einem Stuttgart-Bildband in der Bücherei habe ich mal ein Bild davon gesehen. Das war wirklich ziemlich anders. So idyllisch. Irgendwelche Frauen verkauften unter Platanen Töpfe und Behältnisse für den Haushalt, und das war ihr Leben. Ein Gefühl wie noch im Internet 1993", sagte er, der es sich einfach nicht abgewöhnen konnte, den Insider und Geschichtsintimen zu spielen, vielleicht, weil er irgendetwas beweisen mußte.

"Schaut mal, da hinten läuft ein Mann, der aussieht wie Gustave Flaubert", sagte D..

"Wer ist das denn?" fragten A. und der "Insider" im Chor. Aber da wurde die Fußgängerampel grün und sie brauchten alle Aufmerksamkeit, um über die Straße zu gelangen. Auf der anderen Seite hatten sie dann so viel erlebt, daß sie die Frage wieder vergessen hatten. (Aber selbstverständlich würde die Rede nocheinmal ausführlich auf diesen Punkt kommen, deswegen existiert diese Aufzeichnung ja überhaupt.)

Zweiter Exkurs: A.s Erzählung

Während sie unter dem großen Hochhaus am Charlottenplatz durchgingen und den Eingang zur U-Bahn-Haltestelle rechts unten liegen ließen, sagte A.: "Ist das eigentlich das höchste Hochhaus in Stuttgart?" - "Kann gut sein", sagte der andere. "Ich meine, es ist ja schwindelerregend, selbst im Vergleich mit allem, was so in Manhattan rumsteht. Eigentlich schade, daß es keine Schwarzweiß-Fotos aus den sechziger Jahren gibt, als beim Bau irgendwelche speziellen unerschrockenen Oberschwaben in schwindelerregender Höhe die T-Träger verflanschen." - "Ja, das wäre doch wichtig: Dokumentationen in irgendwelchen Bildbänden über Stuttgart. Vorne Häfelesmarktidylle, hinten scysraper-Baufotos. Aber im Ernst, zehn oder elf Stockwerke sind es schon, oder?" fragte A.. "Meinst Du wirklich?" fragte D. zweifelnd.

Sie kamen am Bohnenviertel vorbei. "Das ist das Bohnenviertel!" sagte er.

"Ich kenne einen Typ in Konstanz, der studiert auch Informationswissenschaft, Dennis ist sein Nickname, der ist auch so eine Bohnenstange. Der ist so lang und dürr wie dieses Hochhaus da", sagte A.. "Jedenfalls: der hat dort unten eine Studentin kennengelernt, die ein bisschen schräg drauf ist. Sie hat so einen touch von Alt-68er-Tum, schwer menschenfreundlich in der Grundeinstellung und wird von romantischen Anwandlungen offenbar regelmäßig heimgesucht…

…und wie die sich anzieht! Aber sie hat ein süßes und liebes Gesicht, und auf sowas fahren die Kerle ja öfters mal ab." - "Ich nicht", sagte er. - "Jedenfalls", sagte A., "ist dieser Dennis volle kanne drauf abgefahren. Einmal, als ich in Konstanz vom Parkhaus rauskam und zur Uni ging, hörte ich, wie die beiden an diesem Kunstwerk am Parkhausausgang, bei diesem Betonporsche da, heftig diskutierten. Was haben wohl solche Menschen miteinander zu reden? Sex? Karriere? Verbrechen? Ich hörte also mal zu, damit ich was lernte. `Also, ich muß noch tanken, und dann können wir los.` sagte dieser Dennis. Und die Romantikerin `Ich muß noch die Eltern anrufen, außerdem muß ich noch ein Treffen mit Tamara heute abend absagen.` Dann sagte der Typ: `Und Du willst das Seminar wirklich ausfallen lassen? Das ist ein wichtiger Schein.` Da überlegte die Romantikerin rum, was mich ärgerte, denn ich wollte wissen, was die da verabredeten und konnte ja auch nicht stehenbleiben. Mach hin, entscheide dich, dachte ich und ging langsamer. `Mhh, mhhh`, machte die Menschenfreundin, und dann endlich `ja, los, laß uns jetzt sofort nach Venedig fahren. Haben wir eigentlich genug Geld?` - `Ich habe noch achtzig Mark`, sagte der Typ, und ich dachte schon, ob das nicht ein bisschen wenig ist. `Ich habe noch dreißig` sagte die Tussi. Und dann war ich endgültig vorbei."

"Ja, und dann?" fragte D..

"Naja, einige Wochen später sah ich die beiden in der Mensa sitzen und erinnerte mich wieder an die Betonporscheszene. Dann sah ich wieder einige Zeit später Dennis, diese Bohnenstange, und fragte, was er die letzte Zeit so getrieben habe. `Programmiert`, sagte er. Und sonst, fragte ich. `Flaubert gelesen, Bouvard und Pécuchet.` Hast du noch diese hübsche, nette Freundin, die sich so toll unkonventionell anzieht, fragte ich, schon ganz leicht genervt.

`Naja, wir waren im Urlaub, da ging uns das Geld aus.` - `Oh, seid ihr beraubt worden? Wo wart ihr denn?` - `Wir

waren in Italien, in Venedig, und das Auto ist uns ausgeraubt worden, als wir es in einem Großparkplatz geparkt hatten. Wir sind dann zur Polizei und haben den Schaden gemeldet, die gaben uns einen Schein für die Versicherung, aber wir waren gar nicht versichert, und auf dem deutschen Konsulat hatten wir eine Menge Glück, die haben uns das Geld vorgestreckt, das die Versicherung zahlen mußte. Keine Ahnung, wie das ging, der Schein hat gereicht. Dann sind wir in ein schönes Hotel am Lido und haben dort vier Tage lang gewohnt. Der Service war echt gut.` - `Das klingt ja wie im Märchen.` sagte ich, und meine Neugier war eigentlich schon erschöpft. Ein bisschen neidisch war ich natürlich auch. Mir passieren nie so seltsame und romantische Dinge, aber ehrlichgesagt finde ich das auch bodenständiger. - `Im Hotel wußten alle von unserem Mißgeschick und bemühten sich, uns gut zu bedienen. Der Kellner abends war richtig zuvorkommend. Es war ziemlich ok. Es gab sogar eine polnische Familie, die sehr kultiviert war und einen sehr hübschen etwa vierzehnjährigen Sohn auf die alten Herren wirken ließ. Aber wir lachten natürlich nur darüber.` - `Oh, und jetzt seid ihr wahnsinnig verliebt, da ja die Umstände so glücklich stehen?` fragte ich leicht konsterniert. `Ja`, sagte er."

"Ich meine ja nur, irgendwie ist er eine Bohnenstange und weil wir hier an diesem Bohnenstangenviertel vorbeigehen, ist es mir halt so eingefallen", sagte A..

"Es heißt bloß: Bohnenviertel", sagte er. "Dann vergiß die Geschichte", sagte A..

"Fällt das unter die Rubrik ` Tratsch

und Klatsch aus Konstanz`?", fragte D.. "Naja, wie man's nimmt", sagte A., "es gab in Konstanz mal sogar eine Diplom- oder gar Doktorarbeit über den sozial höchst wichtigen Status des Tratschens, die sogar im Spiegel rezensiert wurde."

"Das ist wirklich lächerlich", sagte D.. "Alles, was ich an Büchern aus Universitätskreisen kriege, sind immer die lächerlichsten Untersuchungen über alberne kleine Dinge des Lebens, welche aber, ich meine die Untersuchungen, immer einen Magister- oder Doktortitel rechtfertigen. Ich finde das schrecklich."

"Vielleicht ist ja alles Wichtige längst bearbeitet, sodaß nur noch solche Sottisen für den akademischen Betrieb taugen?", vermutete er.

"Das gilt dann aber nur für die höchst veralteten Fakultäten der Germanistik, Soziologie oder Philosophie ", sagte A.. "Denen fällt nichts mehr ein als Kleinkram und biedermeierliche Aufwertung des Vernachlässigbaren. - Aber bei uns gibt es sehr interessante Untersuchungen über die Nutzung der neuen Medien, intelligente Informationsbereitstellung im Internet und solche Dinge, die wir doch sogar selber noch vor einer halben Stunde gebraucht haben, als wir Informationen im Internet recherchiert haben." Er mußte selber lachen.

"Ach, gerade das meinte ich doch mit dem Vernachlässigbaren. Der Tratsch tritt nur in eine neue Form ein, die ihm leider wieder zuviel Bedeutung verschafft", sagte D., obwohl sie zum Thema eigentlich nichts mehr zu sagen hatte. "Es ist sowas wie ein Rückfall in die Zeit, als es noch keine öffentliche Meinung gab, und einzelne Leute meinten, sie hätten die Wahrheit für sich gepachtet und auch mit ihren Meinungen so auftraten." Jetzt hatte sie aber eindeutig genug gesagt und kuckte in ein Schaufenster einer Bildergalerie, an der sie gerade vorbeikamen. Im Bohnenviertel gab es sie an jeder Straßenecke.

Sie blieben alle drei stehen und kuckten ein bisschen durch das Schaufenster.

"Unglaublich", sagte A.. "Das ist die Härte", sagte er. "Mhh", sagte sogar D..

Unter vielen abstrakten Gemälden der Moderne, die meistenteils von Willi Baumeister oder Oskar Schlemmer oder sonstigen Stuttgarter Wilden in sehr antibürgerlicher Manier hergestellt waren, hing ein sehr konkretes Bild, aus Öl und laut Legende den Besitzer der Galerie mit Frau und Kind darstellend, eine neosozialistischen Realität anmahnend, dem kleinsten Detail verpflichtet, aber das große Ganze höchstwahrscheinlich verfehlend (aber wer konnte das sagen: keiner von ihnen kannte den Galeriebesitzer), wahrscheinlich kein Jahr alt, und es biß sich mit den anderen.

"Ich bin begeistert", sagte er und blickte gleich darauf in viel nachsichtiges Lächeln der beiden Bibliothekare, wovon einer seine Frau war, denn sie wußten ja schon, was er jetzt sagen würde, aber er merkte es nicht, "ich liebe Peinlichkeiten grundsätzlich. Ich kenne einen Chat-Freund, dem ist es ähnlich ergangen wie diesem Galerist. Er hat sich eine Homepage zugelegt, in der er über die Wirklichkeit seines Lebens berichtet hat, inmitten all der Lüge und abstrakten Wissensvermittlung, meine Güte, ich fand es ehrlich und gut gemeint und wahnsinnig eigentlich und nicht weiter auffallend in dieser gigantischen Schülerzeitung namens Internet, mäßig amüsant, aber so gut wie alles andere. Nagut, er setzt seine Page ins Netz, wird öffentlich und hofft natürlich auf die Zuschriften fremder Menschen, die sich in ihm wiederfinden und ihm aus sicherer Entfernung in sein Guestbook hinein sagen, daß er sympathisch und nett und nicht allein in der Welt ist."

"Bis hierher ist alles ganz normal." sagte A. lächelnd.

"Genau. Aber dann war es so, daß niemand seine Seite interaktiv annahm, außer seinen Eltern, die extra wegen ihm neu in diese Technik dazukamen. Extra wegen ihm. Also sie wußten nichts von der sogenannten Netzkultur, sondern sie wollten nichts anderes als seine homepage lesen und auf diese Weise was von ihrem Sohn erfahren, - und die dann einigermaßen empört waren."

"Hatten sie einen Kulturschock?" fragte D. lächelnd.

"Genau. Er beklagte sich daraufhin im Chat bei uns anderen, daß seine Eltern keine Ahnung hätten von dem Witz und Esprit, den er parodistisch auf seine Netzerfahrungen verwendet hätte, denn sie kannten nichts vom Netz, sondern nur seinen Text und mußten daher die Freuden der Intertextualität vermissen. Nunja, und auf seinen Seiten sei halt, auf ironische Weise, wie er selber meinte, viel von Sex die Rede. Aber man müsse halt wissen, daß Pornographie im Netz etwas anderes sei als anderswo."

"Moment mal, er hatte eine von diesen Schweinegifseiten, und seine Eltern waren die einzigen, die sie besuchten? Das kann aber nicht sein", sagte D. ernst. - "Das kann schon sein, denn sie waren die einzigen, die ihm Rückmeldung gaben. Die anderen haben nur die Bilder abgesaugt, wortlos, sozusagen lüstern schweigend während des Downloads, wie das in diesen Kreisen üblich ist. Wer im Netz plaudert, hat nicht verstanden, daß Sprache hundertmal indiskreter ist, als jede Veröffentlichung von Bildmaterial. Überhaupt sind Bilder immer herrlich unbedeutend, solange bis jemand kommt, der über sie spricht und kund tut, ob sie gut oder schlecht zu bewerten sind. Das ist dann der, der sie in Sprache umsetzt."

"Das ist jetzt aber sehr seicht, was Du sagst", sagte D. noch ernster. Sie bogen in die Leonhardsstrasse ein.

"Gewiß, es ist ein statistisches Problem, ob man verstanden wird, oder nicht. Kunst besteht darin, den normalen Anteil an Irren für sich stärker zu interessieren, und der Anteil der Irren hängt immer von den jeweiligen sozialen Verhältnissen in den jeweils populären Medien ab."

"Das verstehen wir nicht!" sangen die beiden anderen im Chor.


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Created: 2022-09-09 Fr 22:39

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